Gedanken eines Pfarrers

25. Juli 2021

Liebe Falknergemeinde,

 

als Jäger und Mitglied im ODF Hessen fasziniert mich beim jährlichen Urlaub in den Bergen vor allem eines: Die Tierwelt in den Alpen. Ganz anders ist diese als im Mittelgebirge, wo ich sonst lebe und auch ganz anders als im Flachland. Denn hier, in den Höhen, da gibt es Tierarten, die sonst nirgends vorkommen. Sei es, weil über Jahrhunderte ihr Lebensraum mehr und mehr von Menschen besiedelt wurde und sie sich hierher zurückgezogen haben, oder weil sie schlichtweg schon immer Bewohner der Höhenregionen waren.

 

So liebe ich es, bei einer Wanderung die Pfiffe der Murmeltiere zur hören, die vor ihrem Bau einen aufmerksamen Beobachter abgestellt haben, der andere warnt, vor allem bei der Gefahr von oben. Die Gämse, die akrobatisch über jede noch so schroffe Felsklippe springen. Oder die Steinböcke, die sich am Großglockner in Österreich in eisigen Höhen ihren Lebensraum eingerichtet haben. Die Tierwelt der Alpen ist faszinierend, jedes einzelne hat dort seinen Platz.

 

Besonders fasziniert hat mich aber im vergangenen Jahr ein Anblick, den ich so schnell nicht wieder vergessen werde. Bei einer geführten Wanderung konnte ich mit meinem Fernglas eine ganze Zeit lang einen Steinadler beobachten. Majestätisch zog er seine Bahnen durch die Lüfte. Um ihn zu sehen waren wir bereits zwei Stunden aufgestiegen.

 

Und doch ist mir seither bewusst, warum man den Steinadler auch den „König der Lüfte“ nennt. Sein Landen auf dem Horst, das behäbige um-sich-blicken, das alles umhüllende Federkleid, das ausgebreitet über zwei Meter misst: Es dient sowohl dazu, die aufsteigende warme Luft zu nutzen, um möglichst wenig Energie beim Flug zu verbrauchen, gleichzeitig aber auch als Wärmequelle, wenn das Adlerweibchen den Nachwuchs unter seine Fittiche nimmt. Ein faszinierendes und stolzes Wesen.

 

Kaum zu glauben, dass der Adler bis in die 1970er Jahre, wie so viele andere Greifvögel, systematisch verfolgt wurde. Erst durch den Schutz der Europäischen Union kann auch die Deutsche Adlerpopulation wieder aufleben. Etwa 50 Brutpaare gibt es mittlerweile wieder. Was für eine Tragödie wäre es gewesen, wenn das Tier hier nicht mehr zu finden gewesen wäre. Der Adler spielt in der Geschichte der Menschheit, vor allem seit sich Staaten und Länder gegründet haben eine große Rolle. Er ziert bis heute Embleme, Staatsflaggen und zahlreiche Familienwappen. Als Symbol von Kraft und Macht ist er das zweithäufigste Wappentier nach dem Löwen. Der österreichische Bundesadler mit Krone, Sichel und Hammer, der polnische weiße Adler oder der rote Doppeladler als Wappen Russlands, das sind nur einige Beispiele, die aktuell zu nennen sind. Nicht zu vergessen auch die ostfriesische Staatsflagge, die, wie Otto Waalkes einmal beschrieb, den weißen Adler auf weißem Grund ziert.

 

Auch in der Bibel hat der Adler seine Spuren hinterlassen. Er steht dort für Schnelligkeit und Kraft (Jer 4,13; Ez 17.3.7), als überlegener Streiter (Jer 48,40). Er ist außerdem eine der Gestalten, die Gottes Thronwagen ziehen (Ez 1,10 und 10,14) oder eines der vier Engelwesen, die am Ende aller Tage um den Thron Gottes versammelt sind (Offb. 4,6-7). Seit dem vierten Jahrhundert ist der Adler Symbol für den Evangelisten Johannes, weil dieser sich mit seinem Nachdenken über die Fragen des Glaubens zu göttlichen Höhen erhebt.

 

Ein Vers gibt mir in den traurigen Stunden immer wieder Mut. Und auch der hat mit dem Adler zu tun. Im Jesajabuch heißt es (40,31): „Die auf Gott vertrauen, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht erschöpft werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“

 

Gott gibt mir Rückenwind, egal wie mein Leben gerade läuft. Er deckt mich mit seinen Flügeln zu, wenn alles um mich herum auf mich einzustürzen droht. Und er stärkt mich, wenn große Aufgaben auf mich warten, die es zu bewältigen gilt.

 

Und doch frage ich mich oft, wenn ich mich so umschaue: Wo ist Gott, der die Menschen auf Adlerflügeln trägt, sie mit seinen Fittichen bedeckt und beschützt? Alles, was ich noch sehe sind Zwietracht, Streit, Ärger und Missgunst. Gott als Adler, stark und mächtig, so wie in der Natur? Schön wäre es.

 

Ja, auch ich denke manchmal so. Auch ich zweifle daran, dass Gott mir die Kraft eines Adlers verleihen kann. Auch ich fühle mich schutzlos, so ganz ohne Flügel über meinen Schultern.

 

Dann aber, in anderen Momenten, sehe ich sie wieder, die Kraft des Adlers, die Gott mir und anderen verleiht. Dort, wo Seilschaften sich vertrauen und den Berg gemeinsam besteigen. Und da, wo sich ein Kind voller Lachen an dem Pfeifen eines Murmeltieres erfreuen kann. Oder dort, wo ein Mensch auf schwierigen Wegen nicht allein ist, weil Freunde, Familie und Bekannte ihm zur Seite stehen, ihn stützen und ihm Mut machen.

 

Letztlich glaube ich daran, dass Gott mich beschützt, so wie der stolze Adler seine Flügel über seine Jungen deckt. Ich kann mich auf die Suche machen, immer wieder neu. Und vielleicht entdecke ich Gott, im Gebet, im Gesang oder auf einer Bergwanderung. Denn seine Schöpfung erklingt und erscheint, genau hier, genau vor meinen Augen.

 

Wenn sie also das nächste Mal ein Murmeltier pfeifen hören, einen Vogel in luftigen Höhen bestaunen oder der Duft von Kräuterwiesen sie beglückt, denken sie daran: Gott schaut auf seine Schöpfung, ganz von oben. So wie ein Adler, der unentwegt, Tag für Tag seine Bahnen zieht. Er hat alles im Blick und ist da, wenn ich ihn brauche. Amen.

 

Dipl.-Theologe Manuel Fetthauer

Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde

St. Peter zu Diez